1. Allgemeine Situation in Hessen zu Auswanderungen

Es gab damals zu Beginn des 19. Jahrhunderts viele Gründe für die Bewohner in Hessen über eine Auswanderung nachzudenken. Das Leben war trostlos und ohne jede Perspektive. Viele Menschen litten unter Existenzängsten und träumten vom Glück in der neuen Welt in Amerika.
Die hessische Regierung versuchte mit allen Mitteln, die Abwanderung ihrer Bevölkerung zu verhindern. Auswanderungen waren bis 1830 verboten. Erst in 1831 wurden sie unter Beachtung zahlreicher Auflagen legalisiert. 

1.1 Beweggründe zur Auswanderung

Hauptgründe zur Auswanderung waren:

  • Hunger und Armut durch wiederholte Missernten. Im Jahr 1816 gab es durch den Ausbruch des Vulkans Tambora (5.4.1815) in Indonesien in der westlichen Hemisphäre  ein Jahr ohne Sommer, was im darauffolgenden Jahr 1817 in Hessen eine große Missernte hervorrief. Das trieb die Bauern in den Ruin. Das Essen wurde knapp und die Bevölkerung musste mehrere Jahre hindurch hungern. Für die 2. Auswanderungswelle ab 1850 war u.a. die merkwürdige Kartoffelkrankheit in 1846/47 mit einer weiteren daraus entstandenen großen Hungersnot verantwortlich.
  • Politische Situation in Deutschland und im Kurfürstentum Hessen Aufstände und Scharmützel mit durchziehenden französischen Truppen während der Zugehörigkeit der Stadt zum Königreich Westfalen sowie hohe Steuern und Abgaben führten zu einer kontinuierlichen Verarmung der Bevölkerung.
  • Existenzängste durch schwieriges Erbrecht (wiederholte Parzellierung durch Realteilung) und die schwierigen Pachtverhältnisse für die kurfürstlichen Besitztümer mussten die überwiegend von Ackerbau und Viehzucht lebenden Neustädter Bauern zusehen, wie ihre Ländereien immer kleiner wurden und fast keine Erträge mehr abwarfen.
  • Sehnsucht nach einem Leben in der „besseren Welt“ In den Jahren ab 1820 verbreitete sich in der nordhessischen Gegend durch Reisende und professionelle Agenten ein Bild vom besseren Leben in Reichtum mit Wohlergehen im neuen Land Amerika. Obwohl diese Werber behördlich verfolgt wurden, wurde bei der Bevölkerung die Sehnsucht nach dem „neuen gelobten Land“ immer größer
  • Persönliche Schicksale, wie Tod des Ehepartners oder der Kinder sowie Verlust des Hauses durch Brand oder Verfall. 
  • Legalisierung der Auswanderung. In der neuen Verfassung des Kurfürstentums  Hessen vom 05. Januar 1831 wurde die bisher illegale Auswanderung offiziell legalisiert.                                                        

1.2. Die politische Situation zu Anfang des 19. Jahrhunderts

  • Nach den französischen Siegen über Preußen in 1806 besetzten die Franzosen die Stadt Neustadt. Seit dem Tilsiter Frieden in 1807 gehörte Kurhessen zum Königreich Westfalen. Die Neustädter Bevölkerung litt während dieser westfälischen Regierungszeit unter einem hohen Steuerdruck, hohen Abgaben  und laufenden Unruhen und Belästigungen durch fremde Truppen. Das führte zu einer kontinuierlichen Verarmung der Bevölkerung.
    In 1813 ging das Königreich Westfalen zu Ende und Neustadt wurde wieder kurhessisch. Kurhessen bestand aus den 4 Provinzen Niederhessen, Oberhessen, Hanau und Fulda. Neustadt wurde dem Kreis Kirchhain zugeordnet und Kirchhain die Kreisstadt. Die Bevölkerungszahlen für Neustadt lagen damals zwischen 1660 (in 1830) und 2077 (in 1855).

  • Zur Zeit des Deutschen Reiches gehörte Neustadt im Landkreis Marburg zum Regierungsbezirk Kassel und von 1868-1944 zur Provinz Hessen-Nassau in 1945 dann zur Provinz Kurhessen im Freistaat Preußen. Neustadt blieb vor den Wirren und Zerstörungen des 2. Weltkriegs weitgehend verschont. Es war glückliche Umstände, dass die Alliierten Luftstreitkräfte die zwischen Neustadt und Allendorf befindliche Munitionsfabrik WASAG zwar fieberhaft gesucht aber nicht gefunden haben.

  • Von den damals etwa 120 Juden, die zwischen 1920-1930 in Neustadt lebten, wohnten nach dem Krieg keine mehr in Neustadt. Die meisten wurden in Konzentrationslager deportiert und sind dort umgekommen. Einige sind nach Amerika, Südafrika oder auch nach Palästina ausgewandert.

  • Nach dem zweiten Weltkrieg gehörte Neustadt, Kreis Marburg  im Regierungsbezirk Kassel dann knapp vier Jahre zur US-Besatzungszone. Mit Gründung der Bundesrepublik Deutschland am 24.5.1949 wurde Neustadt mit dem gesamten Bundesland Hessen dann ein Teil der Bundesrepublik Deutschland.

  • Zum 1.1.1974 wurden im Rahmen der hessischen Gemeindereform die Orte Momberg, Mengsberg und Speckswinkel zur Stadt Neustadt (Hessen) zugeordnet. Neustadt (Hessen) gehört bis heute zum Landkreis Marburg-Biedenkopf in Hessen. 

 

1.3. Die rechtliche Situation zur Auswanderung aus Hessen

  • Auswanderungen waren im Kurfürstentum Hessen zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch lange Zeit verboten.  Die Regierung in Kassel wollte durch diese restriktive Politik die Bevölkerungszahlen halten. Man befürchtete durch den Verlust an Arbeitskräften eine wirtschaftliche Schwächung des Landes. Kurhessische Bürger, die trotzdem auswanderten, handelten illegal.

  • Erst am 5. Januar 1831 wurde in der neuen Verfassungsurkunde des Kurfürstentums Hessen jedem Bürger das Recht auf Entlassung aus dem hessischen Untertanenverband zum Zwecke der Auswanderung verbrieft, sofern er die gesetzlichen Rahmenbedingungen einhält [9]. In §41 der Urkunde heißt es: „Jedem Einwohner steht das Recht der freien Auswanderung unter Beobachtung der gesetzlichen Bestimmungen zu“ Zu diesen gesetzlichen Bestimmungen gehörte ein offizieller Antrag auf Auswanderung, der vom Kreisverwaltungsamt in Kirchhain, Kreis Marburg genehmigt werden musste.
  • Die auswanderungswilligen Neustädter Bürger mussten auch ihr Erbe geregelt haben und durften keine Schulden zurücklassen. Auswanderungsgesuche wurden in der lokalen Zeitung veröffentlicht mit dem Recht auf Einspruch.

  • Die Auswanderungsgesuche galten erst mit dem Stempel des Bürgermeisteramts am Wohnort und mit dem Stempel der Auswanderungsbehörde am Kreisverwaltungsamt in Kirchhain als genehmigt. Alle Auswanderungswilligen erhielten dann neben ihrem Reisepass noch ein „Signalement“ d.h. eine Personenbeschreibung, die sie bei den Kontrollstellen der jeweiligen Polizeibehörden vorzeigen mussten. Anhand dieses Begleitpapiers konnte man die Zwischenstationen und den Reiseverlauf der Auswanderer bis zur Einschiffung am Überseehafen in Bremerhaven gut nachvollziehen.